Overengineering und wie du es vermeidest
Produktentwickler vergessen oft, dass nicht das Produkt im Mittelpunkt stehen sollte, sondern die Wünsche und Bedürfnisse der Kunden. Ein Produkt, das aus Entwicklersicht „perfekt“ ist, muss nicht automatisch auch perfekt für den Kunden sein.
Und gerade dieser Perfektionismus führt oft zu einem Phänomen, das in Fachkreisen auch Overengineering genannt wird: das Produkt oder der Service wird mit Features und Funktionen aufgeblasen, getreu dem Motto: mehr hilft mehr.
Wir zeigen dir in diesem Post, warum Overengineering meist die zweitbeste Option ist und wieso man Overengineering vermeiden sollte, um am Markt erfolgreich zu sein.
Was bedeutet Overengineering?
Mit Overengineering (auch Over-Engineering geschrieben) ist die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen mit unnötigen Eigenschaften gemeint. Charakteristisch für Overengineering-Produkte ist oft eine extreme Robustheit und Widerstandsfähigkeit gegen außergewöhnliche Bedingungen sowie ein Überfluss an Funktionen.
Beim Overengineering liegt in der Regel ein ‚zu viel‘ an Funktionen oder ein ‚zu gut‘ des Materials vor. Auch wenn bereits bestehende Konstruktionen neu entwickelt werden, spricht man von Overengineering. Ein Stadtfahrzeug, das für eine Geschwindigkeit von 300 km/h konzipiert wurde, ist eindeutig „überqualifiziert“.
Overengineering und Verschwendung
Bei Overengineering erhalten die Produkte Eigenschaften, die von Kunden nicht gefordert wurden und auch nicht den Unternehmenszielen entsprechen. Es handelt sich daher um eine Verschwendung von Ressourcen.
Durch das Planen, Konstruieren und Testen unnötiger Funktionen und Merkmal geht viel Zeit verloren, die Verzögerungen bei der Markteinführung nach sich ziehen kann.
Bei Fällen von Overengineering im Ingenieurwesen wird oft festeres oder mehr Material verwendet als erforderlich. Fertigung und Montage werden aufwändiger, je mehr Funktionen das neue Produkt aufweist.
Als Folge der Produktkomplexizität nimmt die Gewinnspanne ab. Empfehlenswert ist in solchen Fällen ein MVP zum Produktstart!
Letztendlich führt Produktkomplexizität zu einer höheren Fehleranfälligkeit und damit höheren Servicekosten. Im Softwarebereich zeigt sich Overengineering in einem Überfluss an Funktionen, zu hoher Komplexizität und einer zu starken Ausrichtung an zukünftigen Entwicklungen. Auch hier kann Overengineering zu hohen Folgekosten führen.
Ein Beispiel: die Saftpresse des US-Startups Juicero
Vor einigen Jahren brachte das US-Startup Juicero aus dem Silicon Valley eine 400 Dollar teure internetfähige Saftpresse auf den Markt, die Saft aus eigens produzierten Einwegbeuteln mit Frucht- und Gemüsestücken presste.
Das Gerät liest auch den auf die Saftbeutel aufgedruckten QR-Code aus und gleicht die Daten mit denjenigen einer Datenbank im Internet ab, um sicherzustellen, dass das Haltbarkeitsdatum nicht abgelaufen ist oder die Produkte nicht zurückgerufen wurden.
Nach der Markteinführung stellten einige Investoren überrascht fest, dass sie den Saft auch mit den bloßen Händen aus den Beuteln auspressen konnten – in der gleichen Geschwindigkeit wie die 400-Dollar-Maschine.
Für das Konzept der Saftpresse hatten namhafte Investoren ca. 120 Mio. US-Dollar beigetragen, darunter auch Google. Unfassbar!
Die Saftpresse von Juicero war ein Flop – sowohl für Gründer als auch Investoren (Quelle).
Wie sich Overengineering vermeiden lässt
Nun weißt du: Overengineering solltest du vor allem aus Effizienzgründen vermeiden. Kommen wir nun zu den Aspekten, die du im Zuge dessen berücksichtigen solltest.
Die Kundenanforderungen in den Mittelpunkt stellen
Durch die sorgfältige Analyse von Kundenwünschen lässt sich Overengineering vermeiden. Bei der Produktentwicklung dürfen nicht einfach die Kundenanforderungen des letzten Projekts übernommen werden oder bereits vorhandene Lösungen verwendet werden.
Letzteres ist häufig der Fall, denn Entwickler tendieren dazu, eine gute Lösung auch für weitere Projekte zu verwerten. Wenn nur Annahmen und Einschätzungen über die Kundenwünsche gemacht werden, erhöht dies die Gefahr für Overengineering. Der wichtigste Schritt ist es daher, im Vorfeld herauszufinden, was der Kunde wirklich will.
Das Produkt muss so entwickelt werden, dass es genau den Kundenwünschen entspricht. Customer Centricity ist hier das magische Stichwort. Die Produktanforderungen müssen dazu klar formuliert sein. Hier ist es auch wichtig, ggf. beim Kunden mehrmals nachzufragen und sich die Anforderungen möglichst schriftlich bescheinigen zu lassen.
Mehr als die Erfüllung dieser Anforderungen sollte das Produkt nicht bieten. Parallel dazu sollten Wettbewerbsvergleiche durchgeführt werden.
Einfachheit des Produkts
Keep it simple! Die Produkte müssen nicht mehr Lösungen bieten als gefordert wurde. Erweiterungsmöglichkeiten für ein Produkt sollten nur dann eingeplant werden, wenn man davon ausgehen kann, dass sie in der Zukunft benötigt werden. Dies gilt beispielsweise auch für Software.
Simulation der Produkteigenschaften
Eigenschaften und Verhalten des Produkts sollten frühzeitig simuliert und getestet werden. So lässt sich fortlaufend prüfen, ob der richtige Weg zur Erfüllung der Produktanforderungen eingeschlagen wurde.
Bei Softwareentwicklungen müssen diese rechtzeitig in verschiedenen Browsern und auf verschiedenen Plattformen und mobilen Endgeräten getestet werden.
Frühzeitiges Feedback von Kunden und Anwendern einholen
Durch frühzeitiges Feedback von Kunden und Anwendern lässt sich abschätzen, ob eine Produktentwicklung sinnvoll ist oder nicht bzw. an welchen Stellen noch nachjustiert werden müsste. Die Vorgehensweise nach der Build-Measure-Learn Methode ist für Startups jeglicher Art bestens geeignet!
Hinterfragung aller Prozesse
Jeder Prozess der Entwicklung sollte zu verschiedenen Zeitpunkten kritisch geprüft und hinterfragt werden.
Muss es wirklich das ausgewählte teure Material sein oder gibt es eventuell eine kostengünstigere Alternative? Wird eine bestimmte Eigenschaft oder eine bestimmte Funktion auch wirklich benötigt? Ist die Bluetooth-Schnittstelle tatsächlich erforderlich? Im Zweifelsfall hilft ein Nachfragen beim Kunden.
Eine Umfrage zu Overengineering und seinen Folgen (Quelle).
Fazit: Weniger ist mehr
Over-Engineering kann zu unnötigen Kosten und zu einer großen Verschwendung an Material und Zeit führen. (Jung-)unternehmer, Gründer und Startups sollten dies bei der Planung und bei allen Prozessen der Entwicklung berücksichtigen.
Produktentwicklung sollte die intelligente Übersetzung von Kundenwünschen sein und nicht dem Ziel dienen, ein besonders hippes, innovatives Produkt mit zahlreichen Funktionen zu kreieren, die nicht benötigt werden.
Vor der Entwicklung eines Produkts oder einer Dienstleistung muss die gründliche Auseinandersetzung mit den Kundenanforderungen stehen. Insbesondere Startups sind anfällig für Overengineering, denn meist stecken sie viel Zeit in ihr Projekt und wollen ihr Produkt möglichst „perfekt“ machen.
André Wehr
Hi Niko,
spannender Artikel, über den ich gerade gestolpert bin.
Du hast ja auf die Build-Measure-Learn Methodik nach Lean Startup hingewiesen. Aus meiner Sicht fast noch entscheidender ist, als Basis des Handelns die Kundenentwicklung (das Customer Development) als Mindset im Startup zu bekräftigen.
So kommst Du bereits frühzeitig mit Kunden in Kontakt und wirst davor bewahrt, Produkte völlig am Markt vorbei zu entwickeln.
Herzliche Grüße,
André